Die Wahrheit über Tierversuche – ausgestrahlt vom rbb am 4.5.2020 – Gedanken zur Sendung

Ein großes Dankeschön geht an den Reporter Sven Oswald, der mit dem Thema Tierversuche und tierversuchsfreier Forschung konfrontiert, der nachfragt, nachhakt, vorsichtig seine Gedanken äußert, niemanden unberührt zurücklässt.

Die Blickrichtung geht zunächst auf ehrwürdige Universitäten, auf Institute, dann Zahlen.

Berlin sei die Hauptstadt der Tierversuche. Mehr als 200.000 Versuchstiere würden hier alljährlich in der Forschung genutzt. (Laut LAGeSo 2018 waren es 222.588 Tiere.)

Mitgezählt wurden jedoch nicht die Tiere, die aus der Zucht herausfallen, weil sie unverkäuflich geworden, nicht mehr brauchbar sind oder einfach, weil zu viele Tiere beantragt und genehmigt wurden. Und bleiben wir bei der Wahrheit der nackten Zahlen: Genannt werden auch nicht die, die zur Produktion und zum Erhalt transgener Linien gezüchtet und getötet wurden. 2017 waren es 431.062 getötete Tiere. Diese Anzahl dürfte in etwa auch für 2018 hinzugezählt werden müssen.

Die Kamera schwenkt.

In der Charité rührt ein kleiner, tapferer Junge mit künstlicher Herzklappe mit seiner Unbefangenheit. Was wünscht man mehr, als Hilfe zu finden, ihn wieder gesund werden zu lassen. Die Hoffnung richtet sich auf drei Schafe in einem Stall. Eine völlig neue Therapie soll erprobt werden. Auch sie haben Klappen, aus eigenem Material, mitwachsend.

Fast entsteht der Eindruck: Das Kind oder die drei Schafe. Ist es wirklich so? Studien von Lindl und Völkl (Quelle: Altex 2011:28,242-243) belegen eine äußerst geringe Relevance (0,3%) auf eine direkte Korrelation zwischen Tierversuchen und sich den daraus ergebenden Therapien. Bis heute gibt es keine neuen Studien mit anderen Ergebnissen.

Es ist traurig, dass die Mutter des Kindes sich genötigt sieht, den Tierversuch ethisch zu rechtfertigen. Darf sie nicht jeden, ihr angebotenen Strohhalm ergreifen, um das Leben ihres Kindes zu retten? Hat sie Alternativen? Und so erscheint ihre Aussage, wir essen ja auch Tiere, eher hilflos. Essen wir denn Affen, Mäuse, Katzen und Hunde? Dürfen wir überhaupt Tiere essen? Die Frage nach der Achtung vor allem Lebens bleibt offen. Ist das ethische Dilemma nicht eher der Stellenwert, dem wir menschlichen und tierischem Leben geben?

Ist das Problem nicht das Festhalten am Tierversuch, den Paradigmenwechsel nicht eingehen zu können, trotz des Wissens um die großen Schwächen des Systems, abgesehen von den schweren Leiden der Tiere?

Die Kamera führt nun ins MDC, hier werden 50 000 Mäuse in engsten Käfigen gehalten. Es gehe den Tieren in der Regel gut. Eine fragwürdige Feststellung. Betont werden die strengen Regeln, die Auflagen, die zu erfüllen sind. Kein Wort von unzureichenden Kontrollen, zu wenig Personal. Die Zustände im LPT Hamburg werden als Geschehnisse in einem privaten Labor abgetan. Auch dieses unterlag behördlichen Bestimmungen und Kontrollen.

Ein Krebsforscher stellt einige Mäuse vor. Auch ihnen gehe es gut. Sie hätten nur kleine Tumore, die nun nicht mehr da seien.

Die Aussage namhafter Krebsforscher, sie heilten in den letzten Jahrzehnten nur Tumore von Mäusen, aber nicht von Menschen, schwebt ungesagt im Raum.

2018 ging der Nobelpreis für Medizin an zwei Immunforscher. Der künstlich erzeugte Krebs wurde zwar bei Mäusen geheilt, die Therapien schlugen aber bei den häufigsten Krebsarten beim Menschen so gut wie gar nicht an oder sie erzeugten schwere Nebenwirkungen. Auch das ist die Wahrheit über Tierversuche. (Ärzte gegen Tierversuche e.V.)

Sven Oswalds Auswahl von Forschenden tierversuchsfreier Methoden wird dann hochinteressant.

Große Hoffnung, vor allem in Zeiten von Corona, macht das von Prof. Dr. Jens Kurreck und seinem Forschungsteam im 3-D-Druck geschaffene menschliche Lungenmodell.

Es besteht aus Biotinte mit Millionen menschlicher Zellen, einen Quadratzentimeter breit und zwei Millimeter hoch. Mit Hilfe einer Nährstofflösung laufen Prozesse ab wie in einem echten Lungenmodell. Das Modell lässt sich mit Viren, auch Coronaviren, infizieren. Die Viren vermehren sich, Immunantworten werden beobachtet. Das Modell kann schnell gedruckt werden. Es ist in hoher Stückzahl reproduzierbar. Keine langen Genehmigungsverfahren, keine Suche nach Tiermodellen, keine aufwendigen und grauslichen Tierversuche! Direkt auf den Menschen übertragbar!

Entwickelt wurde es in den letzten vier Jahren in der Infektionsforschung, um zum einen nach den Aussagen von Jens Kurreck Tieren viel Leid zu ersparen, zum anderen aber eben auch, weil die Aussagekraft der Tierexperimente nur sehr bedingt ist.

Das Modell wird ständig verbessert und optimiert. Ziel ist es jetzt, die Wirkstoffentwicklung mit Hilfe dieses Organmodells zu beschleunigen und einen Beitrag gegen das Coronavirus zu leisten.

Prof. Dr. Gerhard Püschel, Biochemiker, entwickelte vor 5 Jahren mit seinem Team an der Uni Potsdam eine Universalalternative zur Testung von Botox, einem extrem starken Nervengift und Medikament. Diese Alternative ist fähig, jegliche Art von Botox in ihrer Giftigkeit zu erkennen. Zuvor wurden und werden auch noch heute diese Tests an Mäusen in äußerst grausamen und schmerzhaften LD50 Tests durchgeführt. Prof. Püschel hat sein Verfahren nie patentieren lassen, um jedem diese tierversuchsfreie Methode zu ermöglichen. Kleine private Labore nutzen jedoch weiter Mäuse. Die Umsetzung im großen Maßstab fehlt. Um das Leid zu beenden, werden Industriepartner mit entsprechender Expertise benötigt. Hier fehlt effektiv der Druck auf die Industrie, hier ist auch die Politik gefragt.

Der Arzt Dr. Uwe Marx, Gründer der Firma TissUse GmbH, entwickelt mit seinem Team menschliche Organe auf einem Chip. Auch er hat früher Tierversuche gemacht, wendete sich ab, davon überzeugt, nahe am Menschen forschen zu müssen, Tierversuche für sich und andere Vergangenheit werden zu lassen. Für die Organe nutzte er den Verkleinerungsfaktor 100 000. Den gesamten Menschen auf dem Chip, dazu braucht es mindestens 10 Organe, der Prototyp liegt bereits vor. Laut Dr. Marx sind in 3-4 Jahren 10 Organe auf einem Chip möglich, so dass wesentlich komplexere Tests durchgeführt werden können. Durch eine Flüssigkeit können die Organe untereinander agieren, Wirkstoffe und Therapien können getestet werden. Ein weiteres Ziel ist es, Therapien direkt für einen Patienten zu entwickeln. Zwei- und Vier-Organchips hat Uwe Marx bereits erfolgreich zur Marktreife gebracht. 20 Pharma- und Kosmetikunternehmen stehen unter Vertrag. Tierversuchsfreie Forschung kann atemberaubend sein!

Prof. Dr. Sven Geisler vom Julius Wolf-Institut, Charité, testet zur Zeit die Verträglichkeit von Prothesenmaterial am menschlichen Knochen sowie die Wirksamkeit auf den gesamten Organismus. Auch das kann Forschung! Bislang wird dieses an Tierversuchen, mit allen seinen Nachteilen, erprobt.

Auch Sven Oswald fordert am Ende eine starke Förderung tierversuchsfreier Forschung. Eine Forderung, die nicht mehr zu überhören ist, weder von der Wissenschaft noch der Politik.

Tierversuchfreie Forschung wird im Gegensatz zu Tierversuchen mit Almosen gefördert, doch klugen Köpfen mit viel Energie und Engagement gelingen immer wieder bewundernswerte tierversuchsfreie Forschungsmethoden. Sie sind ethisch unantastbar, auf den Menschen direkt übertragbar und in der Regel in ihren Ergebnissen schneller und genauer als der Tierversuch. Politik und Wissenschaft haben dieses zu lange nicht erkannt, verharren weiter im Dornröschenschlaf. Um wie viel weiter wären wir wohl, wenn längst riesige Summen in hochmoderne tierversuchsfreie Forschung geflossen wären und fließen?

Sendebeitrag:  Die Wahrheit über… Tierversuche

Interview mit  Prof. Jens Kurreck: Berliner Lungenmodell könnte Coronaforschung beschleunigen