Wegwerftiere. Was macht den Wert eines Lebewesens aus?

Ein Gastbeitrag von Anja Abate

Im Büro der TierVersuchsGegner Berlin und Brandenburg e.V. in der Dahlmannstraße steht ein Pappaufsteller von „Versuchs“tieren in einem Müllsack. Darauf steht: „Entwürdigt. Entstellt. Entsorgt.“ Er ist sehr schwer zu ertragen. Dabei ist es nur ein Pappaufsteller. Aber diese Pappe des Grauens zeigt in brutaler Direktheit was sonst nicht gezeigt und worüber sonst nicht gesprochen wird: Dass trotz aller Beteuerungen um 3 R nicht mal ein Minimum der Forschungsmittel in vorhandene tierfreie Methoden oder die Entwicklung neuer gesteckt wird und selbst ihre Validierung zu teuer und aufwendig ist, weil „Versuchs“tiere wie „Nutz“tiere einfach billig sind. Billiger Müll, nicht mehr wert als die Wegwerfplastikröhrchen im Labor.


Was macht den Wert eines Lebewesens (1) – auch des Menschen – aus? Eine persönliche Bindung? Sympathie? Bestimmte Eigenschaften? Was jemand kann oder verdient? Wie viele es davon gibt?
Ist eine Kakerlake, die vergiftete Ratte im Keller, das zum Abschuss freigegebene Reh einer „zu großen“ Population oder der für den „Seuchenschutz“ getötete Nerz weniger ein Individuum als ein sibirischer Tiger oder ein Mensch? Wer entscheidet wann sie zu viele sind? Wenn sie in menschliche Wohngebiete gehen? Die sind nun mal überall. Wer entscheidet, wessen Wohngebiete das sind? Man stelle sich das beim Menschen vor: Keine Betrachtung als Individuen, sondern eine vorgegebene Prozentzahl Menschen aus Frankreich, oder Menschen mit Segelohren oder Basketballer*innen, sonst sind es zu viele.

In den Sozialwissenschaften und der Psychologie nennt man das Anderung, Othering, Dämonisierung oder bei Menschen Dehumanisierung (2). Auf dieser Technik basieren Vorurteile, Propaganda und Feindbilder – egal ob zur Rechtfertigung von Machtbeziehungen z. B. bei gesellschaftlichen Randgruppen, zwischen politischen Lagern oder im Kriegs- oder Genoziddiskurs. Dabei selektiert man wie bei der kleinen Propaganda des Alltags, z. B. im Streit (aber im Prinzip ist alles Propaganda), die positiven Beweggründe und Eigenschaften für sich selbst und schreibt alle negativen dem Gegenüber zu oder man verharmlost die eigenen Taten und dramatisiert die des Gegenübers und umgekehrt. So macht man sich selbst zum Opfer oder Helden und das Gegenüber zum Täter (oder *in) oder etwas „Anderem“ als man selbst und rechtfertigt so das eigene gewaltsame Handeln. Dabei können aus ganz unterschiedlichen Individuen homogene Gruppen erzeugt werden, die von den zugeschriebenen Eigenschaften determiniert werden und dies verhindert Empathie.

Bei anderen Tieren als dem Menschen spricht man von Speziesismus (3) statt Dehumanisierung. Gegen wen geht der Kampf bei anderen Tieren? Es ist kein fairer Kampf Zahn um Zahn, sondern angesichts der völligen menschlichen Übermacht eher ein Kampf gegen die eigenen Gefühle oder die anderer Menschen, um die eigenen Vorteile (4) auf Kosten anderer Arten zu bewahren. Speziesismus wird wie jede Anderung auch über Sprache reproduziert: Menschen werden dabei extrem idealisiert und aufgewertet. Obwohl biologisch keine Pflanzen oder Pilze, werden sie sprachlich von der abgewerteten Gruppe der Tiere abgegrenzt. Tiere „essen“ oder „gebären“ zum Beispiel nicht, sie „fressen“ und „werfen“. Menschen werden „ermordet“ oder „getötet“, Tiere „gekeult“ oder „geschlachtet“ – eine sprachliche Verharmlosung oder Verdinglichung. Auch Begriffe wie „Ungeziefer“ oder „Schädlinge“ (5) mit all ihren negativen Zuschreibungen sind keine biologischen, sondern rein kulturelle, abwertende Kategorien, die es in irgendeiner Form in allen Sprachen gibt, so wie es in allen Kulturen Tierfreunde und Speziesisten gibt. In der Biologie gibt es keine Höherwertigkeit oder Bewertung von Lebewesen und es gibt in der Evolution keine Entwicklungsstufen. Auch Komplexität spielt keine Rolle. Je nachdem in welcher Umgebung etwas leichter überlebt, verwandeln sich Organismen mit komplexer Wahrnehmung in vermeintlich einfache parasitäre Formen und umgekehrt und jede Art bringt ihre eigene Komplexität mit sich. Ein Bewusstsein macht eine Art nicht höherwertiger als eine andere. Deshalb macht es auch keinen Sinn jene Tiere besser zu stellen, die dem Menschen möglichst ähnlich sind oder sie zu humanisieren, nach ähnlichen Eigenschaften zu suchen und daraufhin eine Bewertung vorzunehmen. Da wir alle genetisch verbunden sind, finden sich diese Eigenschaften wie eine individuelle Persönlichkeit auch bei anderen Tieren, sie wurden ihnen nur durch Anderung abgesprochen, aber das macht Organismen ohne diese Eigenschaft nicht minderwertig.

Hier sieht man wie widersprüchlich der Diskurs um „Versuchs“tiere ist. Zum einen sollen sie aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten oder was auch immer nicht gleich zum Menschen sein, der sich in dieser Hinsicht mal wieder völlig selbst überschätzt, ihre Bedürfnisse werden ihnen abgesprochen, weshalb sie wie früher die „Opfer“tiere zum Wohl aller entbehrlich sind, zum anderen sollen sie doch wieder gleich sein, sodass von ihren Körpern auf menschliche geschlossen werden kann, obwohl sie für eine verlässliche Übertragbarkeit eines komplexen Organismus zum anderen 1 zu 1 gleich sein müssten. Was ist es denn jetzt?

Die Erforschung der Gefühle verschiedener Tierarten wird faszinierend wenig thematisiert. Die Nicht-Thematisierung und Verhinderung von Transparenz durch die Abschottung der Labore und Prozesse vor der Öffentlichkeit ist es auch, die hilft das saubere Image aufrechtzuerhalten, das nötig ist, um die Gewalt (6) in der Wissenschaft und der Gesellschaft auf Kosten Schwächerer aber „zum Wohle aller“ zu rechtfertigen. Bei Menschen, bei denen die Hemmschwelle mittlerweile höher liegt, obwohl dem nicht immer so war, ist es sogar noch ominöser. Oder wissen Sie an welchen Menschen und in welchen Ländern zum Abschluss Medikamente getestet werden?

Egal ob dies für sinnvolle Medikamente geschieht, Abnehmtabletten oder womit sich sonst so Geld verdienen lässt oder für eine sinnlose Konkurrenz (statt Kooperation) der „Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorte“ (mit denen man einfach alles rechtfertigen kann), mit wenig Transparenz kann man alles verharmlosen und vermitteln: Tierfreie Methoden sind gar nicht nötig, denn Forschung an Tieren ist „human“. Es gibt Ethikkommissionen und Tierpfleger*innen, alles ordentlich, alles mit Verantwortung, alles nicht so schlimm. Aber geht das überhaupt ethisch? Und was soll das überhaupt bedeuten: „mit Verantwortung“? Oder mit „Tierschutz“? Kann in einem solchen Fall von einem „Schutz“ der Tiere gesprochen werden?

Hier ein Beispiel aus einer Aufklärungsbroschüre der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur „Unverzichtbarkeit“ von Tierversuchen in der Forschung, in der sprachlich verharmlosend von „Belastungen“ für die Tiere gesprochen wird, so wie der ganze Text zum Understatement greift. Ich habe als Methode zur Dekonstruktion des Diskurses mal den Begriff „Tier/e“ extra hässlich und etwas blödsinnig durch „Hänsel und Gretel“ (immer fett gedruckt) ersetzt, da Kinder historisch gesehen auch nicht immer als vollwertige Menschen betrachtet wurden und damit das was als normal dargestellt wird in seiner Absurdität deutlicher hervortritt. Es könnten jedoch auch ganz andere Begriffe verwendet werden. Diesmal wurden Hänsel und Gretel nicht im Wald ausgesetzt, sondern für die medizinische Forschung abgegeben. Ändert sich dadurch etwas? Wer sich traut:

“Belastungen für Hänsel und Gretel

Hänsel und Gretel haben nach dem heutigen Wissensstand ein ähnliches Schmerzempfinden wie Menschen. Verhaltensreaktionen von Hänsel und Gretel lassen vermuten, dass sie Schmerzen nicht nur wahrnehmen, sondern dass sie auch subjektiv darunter leiden. Diesen Umstand berücksichtigt der Gesetzgeber, indem er bei der Genehmigung eines Hänsel und Gretel-Versuchs fordert, die Folgen für Hänsel und Gretel einzuschätzen. Für die Beurteilung der Belastung sind sowohl die Versuchsdauer, die Häufigkeit der Eingriffe, die Intensität, Dauer und Häufigkeit des Schmerzes sowie die Beeinflussung des natürlichen Verhaltens zu berücksichtigen. Viele Manipulationen an Hänsel und Gretel können durch geeignete begleitende Maßnahmen minimiert werden. So sind die Gabe von Schmerzmitteln und optimale Haltungs- und Pflegebedingungen maßgeblich für das Wohlbefinden und das Ausbleiben von Schmerzen und Angstzuständen. Die Belastung von Hänsel und Gretel wird in vier Kategorien eingeteilt: „keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“, „gering“, „mittel“ oder „schwer“. Versuche, die gänzlich unter Vollnarkose durchgeführt werden und aus der Hänsel und Gretel nicht mehr erwachen, gelten als belastungsfrei. Diese Versuche werden als „keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“ in einer eigenen Kategorie geführt. Als gering belastend werden Eingriffe bezeichnet, wenn keine wesentlichen Beeinträchtigungen des Wohlergehens und des Allgemeinzustands auftreten oder wenn zu erwarten ist, dass kurzzeitig geringe Schmerzen, Leiden oder Ängste verursacht werden. Solche Behandlungen würden auch beim Menschen in der ärztlichen Praxis ohne Anästhesie oder Schutzmaßnahmen erfolgen. Hierunter fallen beispielsweise Injektionen oder Blutentnahmen. Verfahren, die nach menschlichem Ermessen unangenehm sind, werden als mittlere Belastung eingestuft. Hierbei werden sowohl das Befinden als auch der Schmerz von Hänsel und Gretel berücksichtigt. Operative Eingriffe unter Narkose mit geringen Folgebelastungen, wie zum Beispiel das Legen eines Dauerkatheters, fallen hierunter. Eine schwere Belastung wäre eine Organtransplantation, bei der zu erwarten ist, dass die Abstoßung des Organs zu schweren Beeinträchtigungen des Allgemeinzustands von Hänsel und Gretel führt. Finale Wirksamkeitstests von Impfstoffen und akute Toxizitätstests gehören ebenfalls in diese Kategorie. Es ist grundsätzlich schwierig, Belastungen einzuschätzen, da Belastungsschwankungen innerhalb eines Versuchsvorhabens, artspezifische Reaktionsunterschiede und emotionale Zustände von Hänsel und Gretel angemessen berücksichtigt werden müssen. Starke Belastungen oder Angstzustände von Versuchs-Hänsel und Gretel, auch soziale Faktoren, können erhebliche Auswirkungen auf das Versuchsergebnis haben. Um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen, ist es deshalb unerlässlich, dass sich Versuchs-Hänsel und Gretel in einem physiologischen Normalzustand befinden, also nach Möglichkeit schmerz- und angstfrei leben. Wissenschaftliches Interesse und Hänsel und Gretel-Schutz sind deshalb kein Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig.“ (abgewandelt, Vgl. Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2016): Tierversuche in der Forschung, S.69-71.) (7).

Wer schon mal operiert wurde oder schwer verletzt war, kann sich vorstellen, ob die Verfasser dieses Textes eine solche Behandlung auch selbst über sich ergehen lassen würden, wenn alles nicht so schlimm ist.

Auch wenn „Haus“tiere wieder ein Thema für sich sind, wer mit einem Tier zusammenlebt kennt es vielleicht: Wenn man sich mal wieder beim Tierarzt (oder *in) blamiert, weil der Patient nicht versteht worum es geht, maßlos übertreibt, unter der Bank im Wartezimmer zittert, beim Hochheben auf den Behandlungstisch schreit wie am Spieß und dann angesichts der erwarteten Folter vor Angst auf selbigen uriniert und beißt, nur um dann harmlos und zu seinem eigenen Wohl eine Spritze zu erhalten.
Wird man zufällig auf der anderen Seite, als „Versuchs“tier oder „Nutz“tier geboren, hat man Pech gehabt. Dann weiß man auch nicht worum es geht, aber diesmal ist es nicht harmlos (schon gar nicht wie es ein solcher Propagandatext der DFG suggeriert), sondern richtige Folter und nicht zum eigenen Wohl. Man wurde extra dafür gezüchtet (8). Für ein Leben voller Leid, ohne Zuneigung und in manchen Laboren ohne Tageslicht. Ein Leben das weniger wert ist und eingetauscht wird für das Leben eines anderen.

Das Gute ist, wir brauchen uns nicht mit moralischen Fragen zum Thema Leben gegeneinander aufwiegen auseinanderzusetzen oder ob man als Wissenschaftler*in völlig abstumpfen muss, um im Fach voranzukommen. Aber dazu müssen wir anfangen vorhandene tierfreie Forschungsmethoden und die Entwicklung neuer zu fördern, die direkt übertragbar sind, d. h. moderne Forschung mit besserer Qualität, sonst ändert sich auch nichts.
Vielleicht brauchen wir dazu auch eine Diskussion über Werte und Gewalt in unserer Gesellschaft und wie zeitgemäß diese noch sind und bessere Konzepte zu Tierrechten, über die wieder großzügig nur wir entscheiden.

(1) Vgl. Watson, L. A. (2015): Remains to be seen: photographing „road kill“ and The Roadside Memorial Project, in: Lopez, Patricia J./ Gillespie, Kathryn: Economies of Death. Economic logics of killable life and grievable death, Abingdon/ New York, S.137-159.

(2) Vgl. Wirtz, Markus Antonius (Hg.) (2021): Dehumanisierung, in: Dorsch. Lexikon der Psychologie, Bern.

(3) Vgl. Denkhaus, Ruth (2018): Speziesismus, in: Ach, Johann S./ Borchers, Dagmar (Hg.): Handbuch Tierethik: Grundlagen – Kontexte – Perspektiven, Stuttgart, S.202-207.

(4) Vgl. Kopnina, Helen (2016): Animal images: exploration of non-human representation in Dutch newspapers,
https://scholarlypublications.universiteitleiden.nl/access/item%3A2860216/view [letzter Zugriff: 18.02.2022].

(5) Vgl. Jansen, Sarah (2003): “Schädlinge”: Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840-1920, Frankfurt/ New York, S.11/12.

(6) Vgl. Kopnina, Helen (2017): Beyond multispecies ethnography: Engaging with violence and animal rights in anthropology, in: Critique of Anthropology, Band 37(3), S.333–357.

(7) Vgl. Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2016): Tierversuche in der Forschung, Bonn, S.69-71.
https://www.dfg.de/dfg_magazin/aus_gremien_politikberatung/dossier_tierexperimentelle_forschung/01_tierversuche_links_und_informationen/index.html [letzter Zugriff: 18.02.2022].
https://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/geschaeftsstelle/publikationen/160201_tierversuche_forschung_de.pdf [letzter Zugriff: 18.02.2022].

(8) Vgl. Greenhough, Beth/ Roe, Emma (2019): Attuning to laboratory animals and telling stories: Learning animal geography research skills from animal technologists, in: EPD: Society and Space, Band 37(2), S.367–384.